"der kreis" / kurzgeschichte

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yoko ono

Aus einem unruhigen Schlaf erwacht war sie einem tief liegenden Impuls gefolgt. Die Morgendämmerung gab sich dem geübten Auge gerade zu erkennen, als sie das Wäldchen erreichte, das seine Wurzeln in Mauern uralter Festungsanlagen geschlagen hatte. Es hieß, die Festung war errichtet auf uraltem Grund unbekannter Zivilisationen, die die Natur im Laufe von Raum und Zeit wieder überwuchert hatte.

 

 

Das Wäldchen ruhte. Die Konturen der Baumwipfel verschmolzen mit den seicht wogenden Nebelbänken, die wie Schaumkronen aus dem Himmel herabsanken und sich mit der Tiefe des Waldes vereinten. Unregelmäßiges, leises Knacken in der Stille. Feine Zweige, die müde nachgaben und seufzend brachen unter den Sohlen ihrer Schuhe. Sie verkündeten der dunklen Welt vor ihren Augen, dass Besuch nahte.

Ihre Füße waren kalt. Wasser war in ihre Schuhe gesickert, hatte die Socken durchtränkt. Als sich die ersten Kronen über ihr ausbreiteten, blieb sie stehen. Lauschte. Nach innen. Nach außen. Eine friedvolle Atmosphäre umhüllte sie wie ein zartes Tuch. Nach einigen kleinen Schritten bereits hörte – spürte sie – ein Vibrieren, ein stilles, kaum merkliches rhythmisches Schwingen in der Luft. Es striff wie eine pulsierende Welle durch das tropfende Geäst, streichelte über ihre Haut, durchdrang ihre Eingeweide. Ihre Sinne wurden scharf, das Jetzt verdrängte Gedanke für Gedanke. Ihr Atem folgte ihrem Blick in die Diesigkeit wie ein neugieriges Kind, verband sich mit den feinen staubigen Wasserperlen des Morgennebels, die auf der Oberfläche dieses tiefen Klanges einen eigenartigen Tanz vollführten.

 

 

Als sich ihr Blick von den kleinen Tropfen löste, baute es sich vor ihr auf. Trieb wie warme Luft aus der Feuchte des Bodens in den Raum. Lag da. Ruhend in der Schwärze des eigenen Schattens. Friedlich. Ungeschützt. Ein geometrischer Körper. Makellos. Eine perfekte Geometrie.

 

 

Das Licht folgte den Tropfen, die sich an den Kanten sammeln, ihren Weg in die Tiefe suchend. In den groben Furchen der ölig schimmernden Aussenhaut glänzen kaum merklich kleine Pfützen. Trüber Atem stieg zwischen den Furchen hervor. Still. Vereinte sich mit der Feuchte des Waldes. Nebel umhüllte den Körper. Ein sanftes Heben und Senken gab sich zu erkennen. Rhythmisch. Wie ein Brustkorb eines träumenden Wesens.

Eine kleine Luke, ein Schacht öffnete sich im Schleier. Er war schwärzer, dunkler als alle Schatten, die sie kannte. Auch die letzten Reflektionen des Lichts verloren sich in ihm, die vormals noch auf den schmalen Kanten der Furchen Platz gefunden hatten. Ihre Erinnerungen an Zeit verwirbelten in der Feuchtigkeit des Bodens. Zeit war nicht mehr existent. Was war Zeit? Ein Konzept? Ein Wesen? Langsam, ganz langsam bewegte sie sich kaum merklich auf den Schacht zu. Warf einen Blick ins Innere.

 

 

Eintritt. Raum und Zeit. Beides war hier gänzlich ohne Bedeutung. Oder von anderer Bedeutung. Raum trennte sich von Zeit. Von Gravitation. Von Vorstellung. Von Glaube. Von ihr. Der feuchte Körper, es war, als löste er sich vor ihren Augen auf. Langsam, kaum erkennbar floß er davon. Wie Perlen aus Kohlensäure trieb die Leere in den Raum. Am Rande ihres Sichtfeldes flackerten geometrische Muster. Feine Mosaike, reflektierende kleine Scherben. Sie überlagerten sich, legten sich einem Muster ähnelnd über die aufsteigende Dunkelheit, rahmten sie. Sie spürte ein zartes Gewebe, das sich auf ihre Haut legte. Es ergoß sich wie einströmende Ruhe über sie. Vertrauen.

 

 

Unsicherheit breitete sich kurz aus, ob ihre Augen geschlossen oder geöffnet waren. als sie den Schacht betrat. Sie meinte, beides zu verspüren. Unsicherheit und Vertrautheit gingen in Eins über. Aus der Idee des Raumes wurde endgültig Leere. Weite. Kosmos. Sie spürte ihren Körper nicht mehr. Wurde Eins mit der Leere. Es existierte allein ihr Geist. Wie ein feiner Nieselregel wirbelte er in trägen Spiralen durch das neue Nichts.

 Weisses, stilles Funkeln verlieh der Schwärze neue Dimension. Ein öliges, schwarzes Band wand sich durch den neuen Raum. Seine Oberfläche vertraut. Ihr Geist striff das Band. Endloser, schwarzer, nasser Stein, ein schwarzer Monolith, triefend. Ein schwarzes Band im leeren Raum. Sie begriff. Klarheit strömte wie ein rauschender Fluss in sie hinein, warf sie beinahe um. Glück breitete sich in ihr aus, floß in ihre eigene Unendlichkeit, fand jeden noch so kleinen Winkel. Es war ein Fragment. Ein Teil eines geschlossenen Kreises, eines endlosen Ganzen. Äonen alt. Ein Wächter. Bewahrer. Speicher. Eine Schwelle zwischen den Welten. Zwischen den unzähligen Projektoren des Kosmos.

 

 

Die Grenzen in ihr und um sie verschwammen, Geist und Monolith wurden eins. Waren eins. Blieben eins. Werden es immer sein. Immer. Trennung war stets Konzept, Verbindung stets das Prinzip. Der Moment war Ewigkeit. Hell und Dunkel, Schwarz und Weiss, Gut und Schlecht – alles war stets nur die eine Quelle. Feine Tröpfchen glommen still und unscheinbar in der Schwärze. Wirbelten durcheinander. Verwoben sich zu Anmutungen eines Raumes. Schwarze Streben schälten sich hervor. Die Dunkelheit wich, fiel in sich zusammen, wie Wellen, die ihre neue Signatur der nächsten Welle schon in sich trugen. Zeit strömte wie ein Mäander zurück in ihren Raum.

 

 

Sie stand auf feuchtem Moos. Sonnenstrahlen pressten sich durch die dichten Kronen. Sie war allein. Verbunden. Hier. Jenseits. Jetzt.

kurzgeschichte / "der kreis" / 2019

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